Lieber Erwin,

der Besucherandrang zur Vernissage war wie erwartet gross. Deswegen, und weil ich ein Mensch bin, der im Moment grosse Ansammlungen von Menschen etwas scheut, meine Bemerkungen etwas verspätet. Ich bin lieber in der Stille und reflektiere an meinem Schreibtisch.

Deine Bilder sind grossartig. Ich habe sie gesehen. Deinen Stellenwert in der Kunst erkannte aber an diesem Tag nicht nur die versammelte Prominenz, sondern auch meine Wenigkeit. Ich weiss ja viel über dich. Zum Beispiel, dass du den Rheinfall so malst, wie kein anderer vor dir. Der Rheinfall ist eigentlich eine Postkartenidylle und du hast ihm in den Darstellungen Vitalität eingehaucht. Das «Blaue» und das «Gelbe», die vorherrschenden Farben, spielst du neuerdings etwas herunter, wenn ich deinen Ausführungen glauben soll. Sie sind es nicht, denn es entspricht einer grossartigen Interpretation von Kraft und Licht. Wie es der Rheinfall eben anbietet. Dass du bisweilen mit beiden Händen malst und auch Farbe heruntertropfen lässt, spürt man in deinen abstrakten Bildern.

Bild Rheinfall

Bild vom Rheinfall ©Erwin Gloor und Galerie mera

Rheinfall, 1993 Gouache

Bild vom Rheinfall ©Erwin Gloor und Galerie mera

Nun gibt es ja den ganz anderen Gloor, den sorgsamen Maler. Den realistischen Maler, der Fotografien überhöht. Diese Bilder sind, wie jeder weiss, eine Sisyphusarbeit von Wochen und Monaten. Die beiden Gloors ergänzen sich gut und ich bin überzeugt, dass diese Aufteilung nicht zufällig und schon gar nicht aus Marketingüberlegungen entstanden ist. Dafür kenne ich dich zu gut. Der Kopf und die Hand brauchen kreative Abwechslung. Das Bild mit der Kerze ist eine solche Arbeit in Überhöhung der Realität. Auch das Bild mit Apfel, Nuss und Birne. Fotografie kann diese Realität nicht leisten. Das Triptychon mit dem realistischen Mädchenkopf der Sharon und den beiden flankierenden Abstrakten habe ich nicht so ganz verstanden. Ich meine damit den Bezug einer realistisch dargestellten Person mit zwei Bildteilen aus deiner wilden Welt. Du wirst es mir bestimmt einmal erklären. Aber Kunst muss man nicht immer gänzlich verstehen. Man entzaubert sie durch Analyse. Völlig überrascht haben mich deine kleinformatigen Werke wie die Aquarelle, die Kreidebilder, Bleistiftzeichnungen und die Bilder in Mischtechnik. Schande über mich. Ich kannte sie nicht. Übrigens: Die Feier nach der Vernissage entsprach ganz deinem Selbstverständnis. Es gab Brot und Suppe. Das entspricht einem bescheidenen Mann, der nach wie vor mit seinem «deux chevaux» herumfährt.

Kerze

Die Kerze, ein realistisches Bild ©Erwin Gloor und Galerie mera

Reproduktion Erwin Gloor

Apfel, Nuss, Kerze, ein realistisches Bild ©Erwin Gloor und Galerie mera

P.S. für die Leser meines Blogs

Die Ausstellung Erwin Gloor von Werken aus den Jahren 2004 bis 2013 ist in der Schaffhauser Galerie mera (www.galerie-mera.ch) vom 3. November bis 14. Dezember 2013 zu sehen. Die Galerie mera ist eine relativ neue Galerie in Schaffhausen und hat unter anderem den Architekten Le Corbusier gewürdigt. Karin & Tomas Rabara von der Galerie verdienen es, über ihre beachtliche Bekanntheit im Schauffhauser Raum hinaus auch Freunde aus Süddeutschland, Winterthur und Zürich zu finden. Kunstfreunde aus der ganzen Welt sowieso.