Der französische Maler, Grafiker und Schriftsteller Francis-Marie Martinez Picabia wurde am 22. Januar 1879 in Paris geboren und verstarb am 30. November 1953 ebenfalls in Paris. Nun hatte ihm vom 3.6.-25.9.2016 das Kunsthaus Zürich in Zusammenarbeit mit dem Museum of Modern Art New York eine Retrospektive gewidmet. Diese Auseinandersetzung mit der immer heftig diskutierten Persönlichkeit schien überfällig. Der Zeitpunkt der Ausstellung ist in Zusammenhang mit dem 100-jährigen Jubiläum der in Zürich entstandenen Dada-Bewegung zu sehen. Ich habe darüber hier berichtet. Picabia war kurzzeitig Dadaist, aber nicht nur.

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~Titelmotiv zur Ausstellung.~

Er malte erst im Stile des Impressionismus, dann des Fauvismus, des Kubismus, agierte im Stile des Dadaismus, des Surrealismus und vielem mehr. Er unterschied nicht zwischen hoher Kunst und Kitsch und verarbeite Einflüsse von überall her. „Selbstkritisch und mit beißendem Humor stellte er die Grundsätze der Moderne als progressiv angelegte Entwicklungslinie in Frage“ wird auf der Website zur Ausstellung geschrieben. Das klingt auch heute noch interessant. Die gezeigten Werke in der Ausstellung haben mich in der Abfolge aber eher verwirrt. Da ein impressionistisches Bild, das man von Claude Monet schon besser gesehen hat. Da ein kubistisches Werk, das eine Kopie eines Bildes von Georges Braque sein könnte. Etc. Bösartig könnte man heute meinen, dass er alles ein wenig versucht hat. Pfui. Diese Meinung ist schändlich und entspricht der Großartigkeit von Picabia keineswegs. Francis Picabia war ein genialer Denker, der mit seinen Werken alles in Frage stellte. Er malte nicht, er dachte. Er sagte „Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“. Dieser Satz ist Programm und er gefiel mir schon früher so gut, dass ich ihn als Motto über einen meiner Blogs stellte.

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~„Dresseur d´animaux“ von 1937.~

Wenn man nun von Picabia eine übliche Künstlerlebensgeschichte erwartet, muss man ebenfalls verwirrt sein. Er wurde als Sohn eines kubanischen Botschaftsangestellten adliger Herkunft und einer bürgerlichen Französin begütert geboren. Er hatte die beste Ausbildung und früh Erfolg. Er kannte die einflussreichsten Leute. Kein Vergleich zu den meisten Künstlern, die zu dieser Zeit ebenfalls in Paris ihr Glück versuchten. Wie den Italienern, den Russen, den Spaniern. Viele wurden ob ihrer mutigen Experimente geächtet und sie wurden erst spät anerkannt. Wenn überhaupt. Der von mir so geliebte italienische Maler Amedeo Modigliani beispielsweise konnte in Paris oft seine Miete nicht bezahlen, starb früh an Tuberkulose und wurde erst nach seinem Tod bekannt. Francis Picabia ging es immer gut. Da er nicht in das Raster eines armen Künstlers passte und er sich nie für lange Zeit einer Stilrichtung unterordnete, sollte er aber nicht verwirren. Besonders begeistert bin ich, als ich las, dass der mit dem bedeutenden Autor der Surrealisten, Guillaume Apollinaire, befreundet war und der geniale Objektkünstler Marcel Duchamp von ihm begeistert war.

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~Typografische Arbeiten für die Zeitschrift „391“.~

Bei Begehen der Ausstellung haben mich zwar viele Bilder von Picabia wie die „Monstres“ nicht begeistert. Trotzdem fand ich einen wunderbaren Schatz: Es sind seine grafischen Arbeiten für Zeitschriften, wie für die Dadazeitschrift „391“, die ich kaum kannte. Für mich war das großartig. Picabia wurde wie schon erwähnt von mannigfachen Quellen inspiriert. So zum Beispiel von Darstellungen in technischen Katalogen. Er stellte eine Zündkerze dar, die keine ist und gab ihr als Titel einen Frauennamen. Er experimentierte mit Textfragmenten. Moderne Typografen sehen da alt aus. Er hatte einfach schon alles gemacht. Schön ist auch der Entwurf eines Theatervorhangs zu dem avantgardistischen Ballett „Relâche“, zu dem er das Libretto schrieb und Erik Satie die Musik komponierte. Also war die Ausstellung auch für mich ein Gewinn. Sowieso.

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~Theatervorhang zu dem avantgardistischen Ballett „Relâche“.~

Dada wurde Hundert

August 11, 2016

Am 5. Februar 1916 eröffnete der deutsche Autor und Tausendsassa Hugo Ball mit seiner deutschen Freundin, Schriftstellerin und Kabarettistin, Emmy Hennings das Cabaret Voltaire in der Züricher Spielgasse 1. Beide waren, wie viele andere Künstler, vor der Situation des Ersten Weltkriegs nach Zürich emigriert. Zürich war damals eine Plattform, die internationalen Austausch gestattete. Lenin, zum Beispiel, residierte nur unweit der Spielgasse in einer Exilwohnung. Emmy sang im Voltaire Chansons und Hugo begleitete sie am Klavier. Bevor der Irrsinn begann war es also recht harmlos. Das sollte aber nicht so bleiben. Weitere Künstler wie der rumänische Dichter Tristan Tzara stießen dazu. Der deutsch-französische Maler, Bildhauer und Lyriker Hans Arp; der deutsche Erzähler, Dramatiker, Arzt und Psychoanalytiker Richard Huelsenbeck; der rumänisch-israelische Künstler, Schriftsteller und Architekt Marcel Janco folgten.

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~Hugo Balls Gedicht Karawane von 1917 in der Typografie der Erstveröffentlichung von 1920. Abb. lizenzfrei~

So, nun sollte ich eigentlich zerstörerischer und unverständlicher fortfahren. Der Dadaismus war eine Kunstbewegung, die die Gesellschaft ihrer Zeit, deren Wertesysteme und traditionelle Kunstformen ablehnte. Ein wichtiges Kampfmittel war zum Beispiel das Lautgedicht, eine Unsinnsansammlung, die mit der gewohnten Sprache nun gar nichts zu tun hatte. Deren Erfinder, wie könnte es anders sein, war Hugo Ball. Lautgedichte wurden kostümiert vorgetragen. Es gibt Fotos von Hugo Ball, wie er in einem kubistisch anmutenden Kostüm aus Pappe posiert. Hugo Ball war es auch, der am 14. Juli 1916 im Voltaire das erste dadaistische Manifest vorgelesen haben soll. Ich sage bewusst „soll“. Unbestritten hat er etwas vorgetragen, aber gleich ein Manifest? Einige Kunsthistoriker zweifeln. In der angesehenen Tageszeitung „NZZ“ ist von Magnus Wieland zu lesen: „Jedenfalls entspricht, was immer auch Hugo Ball am Abend des 14. Juli vorgetragen haben mag, nur bedingt dem, was heute als ,Eröffnungs-Manifest’ zirkuliert. Zumindest weicht der Wortlaut der in zahlreichen Anthologien noch heute abgedruckten Versionen mitunter erheblich vom Original-Manuskript ab, das im Nachlass des Autors überliefert ist. Bei dem im Schweizerischen Literaturarchiv aufbewahrten Dokument handelt es sich um zwei Typoskript-Seiten mit zum Teil schwer lesbaren handschriftlichen Ergänzungen und Korrekturen. Am linken Seitenrand ist von Hand vertikal der Titel ,Das erste dadaistische Manifest’ mit Bleistift hinzugefügt worden, was darauf schließen lässt, dass die Deklaration des Textes zum Manifest erst im Nachhinein erfolgte.“ Rums. Der ungesunde Dada-Menschenverstand sagt mir, dass die Dadaisten unmöglich so sorgsam vorgegangen sind, ein Eröffnungsmanifest vorzutragen. Obwohl es bei andern Kunstrichtungen so ist, wäre das nicht dadaistisch gewesen. Hugo Ball selbst bezeichnete das Vorgetragene als „Schwanengesang“, kurz bevor er den Zürcher Dadaisten den Rücken kehrte.

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~Hugo Ball im kubistischen Pappkostüm. Pressebild Cabaret Voltaire~

Auch die Herkunft des Wortes „Dada“ für Dadaismus ist nebulös. Der deutsch-amerikanische Maler George Grosz, zeitweiliges Mitglied und Mitbegründer der Dada-Bewegung in Berlin, schrieb in seiner Autobiografie, dass Hugo Ball im Kreise einiger Künstler mit einem Messer in ein deutsch-französisches Wörterbuch stach und das Wort „Dada“ traf (französische Kindersprache für Stecken(Schaukel)pferd). Marcel Janco erklärte allerdings in einem Interview, die Geschichte mit dem Messer sei im Nachhinein erfunden worden, weil ein Märchen sich besser anhöre als die weniger poetische Wahrheit. Für wahrscheinlicher hielt er, dass ein in Zürich bekanntes Haarwaschmittel namens „DADA“ die Künstlergruppe zur Namensgebung anregte. Mir gefällt das. Die häufigste Annahme ist aber allgemein, dass das Wort der Kindersprache entnommen worden ist. Wie auch immer, die Dadaisten machen es einem nicht leicht. „Kubismus“ ist vom Wort her klarer (Schaffen einer Illusion, die Gegenstände räumlich und plastisch zeigt). Auch der Begriff „Futurismus“ (Zerstörung der Stofflichkeit durch Bewegung und Licht) ist klarer.

Wie auch immer. Seit jenem denkwürdigen Abend 1916 in Zürich war die Dada-Bewegung nicht aufzuhalten. Es gab Dada in New York, Berlin, Hannover, Köln, Dresden und Paris. Auch wenn von einigen Dadaisten ungeliebt, ist mir die zentrale Figur der Dadaisten in Hannover, Kurt Schwitters, besonders nahe. Auch Marcel Duchamp. Dada erobert alle Kunstrichtungen, von Text, Malerei, Theater, Fotografie etc. Zurück in Zürich: Im Cabaret Voltaire wurde das Jubiläumsjahr gebührend gefeiert. Unter anderem mit 165 sogenannten „Morgenandachten“ pünktlich ab 6.30 Uhr. Das Publikum goutierte viel Wissenswertes: Textlesungen, Rezitation von Lautgedichten, Vorträge von Vitas. Jetzt, nachdem der Spuk vorbei ist, lohnt das Cabare Voltaire immer noch einen Besuch. Es gibt ein frei zugängliches Café, einen Shop mit Kunstpostkarten und vielen Souvenirs. Gegen einen Obolus die Besichtigung der übrigen Räume mit Installationen und Videos. Performances von Mittwochabend bis Samstagabend und bisweilen Dada-Stadtführungen. Als ich da war brummte das Haus. www.cabaretvoltaire.ch

Haus

Hausinnere

Installation

~Das Cabaret Voltaire: Außen, innen, Installation im Keller~