Nein, nein. Es geht hier nicht um die heimische Fauna. Auch wenn die bisweilen mysteriös ist. Etwa, wenn mir nach Mitternacht ein Fuchs vors Auto läuft. Und das unweit des Stadtzentrums. Es ist viel mysteriöser. Es geht hier um den Ort Vinnyzia in der Ukraine. Heute ist der Ort eine unscheinbare Stadt, die eigentlich nur durch die Massenmorde von 1937 bis 1938 durch das NKWD, dem Innenministerium der damaligen UdSSR, das auch Geheimpolizeiaufgaben ausführte, bekannt ist. Wie gesagt, es gibt sonst nichts Aufregendes. Aber zu Anfang des Kalten Krieges, also später, befand sich dort eine sowjetische Spionageschule der besonderen Art. Bei Vinnyzia wurde eine amerikanische Kleinstadt naturgetreu nachgebaut. In ihr führten zirka 1.000 junge Russen zehn Jahre lang das Leben waschechter US-Bürger. Sie lernten nicht nur amerikanisches Englisch, sondern sie sprachen verschiedene amerikanische Dialekte. Sie assen und tranken amerikanisch. Sie schliefen und kleideten sich amerikanisch. Sie studierten bis aufs Kleinste die Geschichte der USA. Sie redeten ausschliesslich über Baseball und Hollywoodstars. Sie tanzten Rock ’n‘ Roll.

~Nachgebaut: Typisch amerikanische Ortschaft.~

Die jungen Männer nannte man Raben, auf Russisch вороной. Die Mädchen nannte man Schwäne, auf Russisch лебеди. Sie wurden so perfekt als Spionageschläfer für den Einsatz in den USA vorbereitet. Sie sollten da ein unauffälliges Leben führen, heiraten, in Verbänden aktiv sein, etc. Ausgestattet mit gefälschten amerikanischen Geburtsurkunden, Sozialversicherungsnummern, Führerscheinen etc. Für den Westen aufgedeckt hat das Per Lindgren, Major und Sowjet-Experte. Er ist so mysteriös, dass es noch nicht mal einen Wikipedia-Eintrag oder ein Foto von ihm im Netz gibt. Er soll in der schwedischen Militärzeitschrift „Kontakt mit der Armee“ Einzelheiten enthüllt haben. Gesichert ist aber ein Artikel im amerikanischen „The Milwaukee Journal“ vom Montag, den 13. April 1959, mit dem Titel „Typical Yankee City in Russia Described“. Das muss um die Zeit von Nikita Sergejewitsch Chruschtschow gewesen sein. Er war damals auf den Gipfeln der Macht und Partei- und Regierungschef. Sie erinnern sich: Das ist der Nikita, der auf der UNO-Vollversammlung 1960 in einem legendären Wutanfall mit seinem Schuh auf den Tisch hämmerte. Er versuchte in der Versammlung erfolglos eine Debatte um die US-amerikanischen Spionageflüge anzustossen. Ja, ja. Auch die Amerikaner wahren nicht ohne.

~Unglaublich: Artikel im „The Milwaukee Journal“.~

Lindgren schildert im Artikel im „The Milwaukee Journal“ eine typische Konversationsübung im Spionagedorf: „A sweet martini“ he orderet. „Nyet“, snaried the barman. „No American would drink a sweet martini. Now start all over again.“ „Well, how about a Scotch on the rocks?“ Der Akteur, der ein Drink orderte, war ein Schüler, ein Rabe oder Schwan. Der Barmann ein Instrukteur. Instrukteure konnten auch Pförtner, Hotelangestellte, Verkäufer und weitere typische Amerikaner spielen. Die Schüler lernten amerikanisch zu telefonieren, Tickets ordern oder Poker spielen. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Mehr über Lindgrens Artikel erfahren Sie hier. Weitere Artikel erschienen im „Daytona Beatch Morning Journal“ und sogar im angesehenen „Time Magazine“.

Im Angesicht der heutigen Cyberspionage und Giftmorde waren die damaligen Spionageübungen doch sehr romantisch. Übrigens: Die Bezeichnung „Raben und Schwäne“ taucht in keinem der Artikel auf. Das habe ich aus der amerikanischen Spionageserie „Navy CIS: L.A.“ Darin spricht die fabelhafte NCIS Special Agent in Charge Henrietta „Hetty“ Lange über die Ausbildung von Agenten.

~Bis zum Abwinken: Trinkgewohnheiten auf amerikanisch.~