Einige durchaus modern denkende Zeitgenossen haben mich zu diesem Beitrag gebracht, und ihre Lust zu reisen. Zu reisen, wie ich mal an anderer Stelle schrieb, zu reisen im Kopf. Aber auch für andere, normal passionierte Wanderer, ist es ein Artikel zu einer wunderschönen Gegend Italiens und zu einer Exkursion, die in Popoli, einem kleinen Örtchen zwischen dem Parco Nazionale del Gran Sasso e Monti della Laga und dem Parco Nazionale della Maiella, beginnt und in Pescara am adriatischen Meer endet. Und die Reise ist fiktiv und findet in der Zeit der Renaissance statt, in der Zeit zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert, also in der Zeit von Leonardo da Vinci. Alles Historische ist aber wahr und die Landschaft ist so wie beschrieben, denn ich kenne sie. Stellen wir uns einfach diese wunderschöne, sanft hügelige Landschaft vor, einen jungen Mann von fünfzehn Jahren, und geben einen Schuss der Castingagenten und Ausstatter von Pier Paolo Pasolini dazu. Derjenigen, die Pasolinis Werk „Decameron“ so schön mitgestaltet haben.

~Toninos Elternhaus in Popoli~

Tonino, so heißt der junge Mann, stammt aus einem bescheidenen Elterhaus, das direkt am Quellfluss der Pescara im altertümlichen Örtchen Popoli steht. An der Via De Contre. Nicht weit entfernt liegt die Kirche San Francesco und das Schlagen des Klöppels gegen die zinnbronzene Glocke weckt ihn jeden Morgen um Sechs. Der Nebel mit seiner Feuchtigkeit zieht dann von der Pescara hoch und Tonino ist froh, dass es in der Küche heißen Kaffee gibt. Keinen Kaffee wie wir ihn heute kennen, nein, nein. Francesca, seine Mutter, verwendet geröstete Eicheln oder Erdmandeln zum Aufbrühen. Toninos Vater ist weg, eigentlich ist er nie da, denn er hat endlich Arbeit in der Abtei San Clemente a Casauria gefunden. Als Kürschnergehilfe. So sind die beiden allein an diesem Frühjahrsmorgen, mit einer Ziege, drei Hühnern und einem Mischlingshund, der etwas Wölfisches hat. Tonino scheucht die Hühner vom Tisch und streicht sich seinen zerknitterten Leinenrock glatt. Heute ist Mittwoch und er wollte zu Padre Savonarola in die Kirche San Trimitá, um das hölzerne Chorgestühl zu polieren und um Padres Geschichten zu hören. Tonino kann weder lesen noch schreiben, aber der Padre kann es und er hat einige zerfledderte Schriftstücke von einem Giovanni Boccaccio in seinem Schrank, die von der großen und weiten Welt berichten. Diese Welt ist so ungeheuerlich und so aufregend für Tonino, dass er sein einziges Hemd hergeben würde, um mehr davon zu erfahren. Etwas hat er ja schon davon gesehen, vom Kirchturm der San Francesco, von der Glockenstube aus. Aber da war nur ein Horizont und wenn er Padre Savonarola ungeduldig fragte, was dahinter wäre, sagte der, noch ein Horizont und dann noch einer und noch einer und schließlich das Meer. Aber das wäre nicht die gesamte Welt.

~Das Ufer des Flusses Pescara~

Als Tonino an diesem Morgen nun an der Taverna Ducale vorbeihastet, hört er etwas Merkwürdiges. Es sind zwei übrig gebliebene Säufer, die sich vom Meer erzählen, und der eine sagt, es wäre bei Pescara. Nicht das ganze, aber ein Teil davon. Und da wäre auch der Hafen mit den Schiffen, die bis nach Indien segeln würden. Oder zumindest beinahe. „Wo ist denn Pescara?“, fragt Tonino neugierig, nicht ohne vorher gehörig Mut bereitgestellt zu haben. „Ach, das ist da hinten, hinter dem Horizont“, sagt der Krummbeinige. „Gegen Osten ist es, da, wo die Sonne aufgeht“. „Meine Herren“, denkt sich Tonino, „die Sonne steht aber schon ganz schön hoch“. „Gibt es dann etwas weiter noch einen Horizont?“, will Tonino wissen. „Ja, da gibt es noch einen“, sagt der Vernarbte und lacht dreckig. Tonino hat genug und beschließt, das Meer zu suchen. Ganz einfach, jetzt, ab hier und heute, und ohne seinem Vierbeiner auf Wiedersehen zu sage und der Mutter auch nicht. Und das Chorgestühl kann warten und die Geschichten vom Padre auch. Die Realität ist immer noch aufregender als aufregend. So macht sich Tonino auf den staubigen Weg gen Osten.

~Die Muttersau~

Anfangs führt ihn der Weg durch ein Waldgebiet und Tonino sieht vor lauter Bäumen den Horizont nicht. Aber Eicheln und Wildschweine. Eine Muttersau mit frisch geborenen Jungtieren, denn wir haben gerade Mai. Sieben Stück an der Zahl entdeckt er, wollig und gestreift, und sie haben gerade das Geburtsnest verlassen. Tonino hat keine Lust, mit der an die sechzig Kilogramm schweren Sau näher Bekanntschaft zu machen und sammelt schnell einige Eicheln auf. Die vom letzten Herbst und die, die noch gut sind. Man weiß ja nie. Etwas später entdeckt er eine Quelle, die zu einem Wasserfall führt und dieser zu einem verwunschenen Tümpel zwischen mächtigen Felsen. „Gebadet hab ich an Kirchweih“, denkt er sich, und streckt seinen Zeh ins eiskalte Wasser. „Sakra, das ist aber unchristlich“. Nun gut, es gibt ja noch die Höhle vom Eremiten. Der ist aber nicht da und Tonino hätte ihn gerne nach dem Meer gefragt. Quasi-Heilige wissen alles. Gegen Abend erreicht der Jüngling Torre de´Passeri mit der nahen Abtei San Clemente a Casauria. Aber da ist ja sein Vater und dem will er jetzt nicht über den Weg laufen. Jetzt nicht, denn er will zum Meer. Also legt er sich unter einen Dornenbusch schlafen. Da ist er von den Tieren des Waldes geschützt. Und vor Schurken auch.

~Die Kirche auf dem Tarignihügel~

Am nächsten Morgen erwacht er, weil die Sonne blinzelt und ihn außerdem ein neugieriges Reh beäugt. „Das Meer“, schießt es ihm durch den Kopf und er ist hurtig auf den Beinen. Nun lichtet sich der Wald und eine Hügellandschaft wartet. Sie öffnet sich weit gegen Osten und in die Welt. Hungrig erreicht er Scafa, ein schmutziges Fleckchen Erde, und eine alte Frau schenkt ihm ein Stück Brot. „Das kann ja heiter werden“, denkt er sich, denn das Meer ist immer noch nicht zu sehen. Aber ein Ochsenkarren, der sich Richtung Manoppello müht. Vom Dörfchen Manoppello hat Tonino zwar noch nie etwas gehört, aber der nette Mann mit seinen beiden Zugtieren und der Ladung Eichenfässer will dahin. Außerdem belebt sich die Straße, stolze Reiter mit ihren Pferden streben dahin, ganze Horden von zerlumpten Gestalten und einige Priester. „Ist Manoppello am Meer?“, will Tonino wissen. „Nein, aber das Volto Santo ist da“, sagt der Gütige, „in der Kapuzinerkirche“. „Was soll ich mit dem Heiligen Antlitz und was ist das?“, bohrt es sich in Toninos Kopf. Tatsächlich, in Manoppello angekommen, ist die Hölle los. Halb Italien drängt sich in die Santuario del Volto Santo, die damals noch nicht diesen Namen trug. Aber auf jeden Fall in die Kirche auf dem Tarignihügel. Der größte Ansturm findet auf eine dunkle Seitenkappelle statt und da ist es, das hauchzarte Tuch aus Muschelseide, sorgfältig über einen Rahmen gespannt. „Das ist der Abdruck des Gesichtes von Jesu Christi“, raunt ein kleines Mädchen Tonino zu, „und es kommt direkt aus Jerusalem“. Tonino ist beeindruckt und er drückt der Kleinen dankbar eine Eichel in ihre schwitzende Hand. Aber wo ist das Meer, um Gottes Willen?

~Es wird Morgen~

Gegen Rosciano hin reiht sich ein braungebrannter Hügelzug an den andern und es ist so wie in der Sahara, von der Tonino natürlich noch nie etwas gehört hat. Nicht so trocken, aber so unendlich hüglig. Jetzt wusste er, was Padre Savonarola mit „und noch einer und noch einer“ gemeint hat: die Horizonte. Schon klar, alle Wasser führen ins Meer und sie haben die Landschaft zu Horizonten zerfurchtet und zum Meer will Tonino ja. „Porco Dio“, sagt sich der junge Mann und ärgert sich etwas. Aber es ist schön, immer wieder neue Horizonte zu sehen. Bis jetzt sind es bestimmt 2.156. Und wenn man hundert Meter weiter nach rechts oder nach links geht, sind es sogar noch mehr. Es wird Nacht und dann wieder Morgen. Tonino wandert und wandert, zupft sich eine Haselnussrute vom Baum und ist fröhlich. Ja, er ist sogar so fröhlich, dass er mit seiner Gerte die eine oder andere lästige Fliege in der Mittagshitze treffen will oder sogar eine fette Hummel. Aber nicht die Schmetterlinge, denn die gibt es jetzt noch nicht. Kleine Echsen begleiten ihn eine kurze Wegstrecke und manchmal ist diese auch versperrt durch blökende Schafe oder wiederkauende Kühe oder störrische Esel. Es wird Nacht und wieder Morgen. Und dann wieder Nacht und wieder Morgen.

~Es wird Nacht~

Du heiliger Bimbam, wo ist das Meer? Es geht weiter in dem alten Städtchen Moscufo oder im Beitrag „Das Meer und die Sehnsucht nach den Abruzzen“.

Zweiter Teil zu Toninos Reise durch die Abruzzen. Den ersten finden Sie in „Die Abruzzen und die Sehnsucht nach dem Meer„.

Gegen Abend des fünften Tages erreicht Tonino Moscufo, ein Örtchen im Hinterland des adriatischen Meeres. Aber von der geografischen Meeresnähe Moscufos hat der junge Mann keine Ahnung, denn so weit konnten die Etüden bei Monsignore Savonarola nicht gehen. Leonardo da Vinci zeichnet zu der Zeit zwar seine ersten Hubschrauber, aber selbst wenn sich einer davon tatsächlich in die Lüfte erhoben hätte, wäre Tonino bestimmt nicht darin gesessen um die Landschaft zu erkunden. Tonino ist also was die Nähe zum Meer anbelangt ahnungslos. Die langersehnte Überraschung soll erst morgen kommen. Morgen. Der späte Tag verspricht trotzdem so Einiges.

~Es wird Nacht in Moscufo~

Ein prächtiger Abendhimmel senkt sich nun über das geschäftige Städtchen. Zögerliche Sterne funkeln. Auch der Mond beginnt zu schmunzeln. Schon am Ortseingang drängeln sich Krethi und Plethi. Es ist ja auch Sonntag. Schweine drängen sich zu den Trögen. Ziegen meckern, wilde Hundehorden zelebrieren den Feiertag. Die Kirche Santa Maria del Lago mit ihrer Benediktinerabtei lässt Tonino links liegen. Von Geweihtem hat er die Nase voll. Auch wenn das Gotteshaus noch so schön romanisch ist. In der Renaissance ist man weltoffen, vergnügungssüchtig, und Verruchtes scheint es am Palazzo eines langobardischen Adeligen zu geben. Zumindest drängen sich da alle Händler, Spieler und Gaukler. Das fürstliche Gemäuer liegt etwas außerhalb in einem Olivenhain.

~Stockduster ist es nun, doch irgendwo lockt die Sünde~

Tonino ist guter Dinge, denn er mag Menschen. Je mehr desto besser. Die gierigen Hände der Bettler und Spieler stören ihn nicht. Er hat nichts zu verlieren und nur alles zu gewinnen. Selbst die brennende Spiritusfontäne des Feuerschluckers, die seine Wange kurzzeitig streift, lässt ihn kalt. Aber das Spiel der Blockflöten und Gamben kratzt ihn auf. Eine unbeschreibliche Erregung bemächtigt sich seiner. Oben auf der Balustrade im Innenhof des Anwesens hat sich ein neugieriges Grüppchen von Schaulustigen versammelt, vorwiegend vornehme Damen. Eine ist darunter, bestimmt nicht das Adelsfräulein, aber bestimmt eine Kammerzofe. Ausgerechnet sie lächelt Tonino zu. Ausgerechnet ihm. Was will sie um Himmels Willen??? Tonino ist gelinde gesagt verlegen. Sein Bein juckt. Um das Maß voll zu machen, schwenkt die Schöne und Einzige ihren Becher aus Zinn. Oh Gott, das sieht aber einladend und außerdem großzügig aus. „Oh berauschender Wein, oh köstlich berauschende Liebe“, jubiliert Tonino und steigt mutig auf ein Fass unter dem Balkon seiner Sehnsüchte. Irgendeiner hat es glücklicherweise vergessen, nur für ihn. Nun ist es nicht so, dass Tonino Dionysos Gabe nicht kennen würde. Nein, nein. In der Taverna Ducale bei sich zu Hause hatte er öfters nach diesem berauschenden Elixier gebettelt, aber ein übers andere Mal einen Tritt in den Allerwertesten gekriegt. Aber nun das.

Wunderschön ist sie, die Angebetete. Blass ist ihr Teint, makellos. So gar nicht so kräftig gebräunt wie die dummen Gesichter der Bauerngören. – Die vornehmen Damen trugen damals Hüte beim Landspaziergang. – Aber ein klitzekleines bisschen gerötet sind ihre Wangen doch. Ganz sicher ist es die holde Erregung. Hallelujah! Tonino hört die Engel frohlocken, nur die guten, denn es gibt auch böse. Er möchte sie zart berühren, die Wunderbare sachte küssen. Nur einmal die Wolllust spüren. Mit ihr zu den Sternen empor schweben und ins gemachte Bett fallen. Ein Dreifach Hallelujah! Es kommt, wie es kommen muss. Tonino streckt sich, das Fass gibt nach, und er findet sich nicht im Siebten Himmel, sondern in der Jauchegrube wieder. Das haben wir nun davon. Lange noch schallt das heidnische Gelächter des Pöbels in seinem Ohr. Lange bis nach Mitternacht. „Morgen gehe ich zum Meer und lasse Sünde Sünde sein“, beschließt er tapfer. Und das ist auch gut so.

~Weg von Sodom und Gomorrha~

~Das Meer! Das Meer! ~

Am nächsten Morgen macht sich Tonino frühzeitig auf den Weg, weg vom Sodom und Gomorrha der Abruzzen. Die Horizonte werden flacher und weniger, und so erspäht er bald schon etwas Unglaubliches. Es ist tiefblau und weit, unendlich weit, und es ist das Meer. Tonino ist so gerührt, dass er eine Träne verdrückt. Sie schmeckt salzig. Hat er es doch geschafft. Dank sei Francesca, Padre Savonarola, dem Volto Santo, Leonardo und selbst Dionysos! Dank gebührt auch seinem treuen Wolfshund, der ihm kaum glauben wird. Tonino weiß jetzt, wo das Meer ist, ist auch Pescara. Das wussten schon die Völker der Antike, sie nannten es nur Aternum und es war ein Hafenort. Zu Toninos Zeiten sagt man Piscaria und es ist auch ein Hafenort und damit basta. Erst entdeckt er kleinere Hüttchen am Strand, in tieferem Wasser auf Pfählen gebaut. Es riecht penetrant nach Fisch und auch etwas muffig nach Tang. Ist das der Geruch der großen weiten Welt? Nein, es ist das Odeur eines Berufsstandes, den es in Popoli gar nicht geben kann. Denn da fehlt das Meer. Und im Meer gibt es Fische, und das nicht zu knapp. Und die Fischer erfreuen sich an Barrakudas, Petermännchen, Fahnenbarschen, Zwerg-Zackenbarschen, Meerjunkern, Meeraalen, Eberfischen, Schwertfischen, Thunfischen und weiß der Teufel an sonst noch was. Sogar an Haien, Katzenhaien zum Beispiel. Aber in diesen Hüttchen am Meer fangen die Menschen, die es in Popoli gar nicht geben kann, vorwiegend Hummer, Langusten, Krabben, Garnelen und Aale. Alles in Reusen, Körben aus Weidengeflecht. Und die gibt es in Popoli auch nicht.

~Der Geruch der großen weiten Welt~

Tonino beschließt, bei aller Attraktivität, die ein Leben mit Meeresfrüchten ausmachen würde, keinesfalls Fischer zu werden und eine leise Sehnsucht nach den Bergen schleicht sich hoch. Aber nur leise. Etwas weiter im Dunst sieht er eine Ansammlung von Häusern, die im wie Pescare vorkommen. Durch lichte Pinienwälder schlendert er nun, vorbei an schlanken Kiefern, prächtigen Mandelbäumen und üppigen Oleandersträuchern und flugs ist er da, in Pescara. „Meine Herren, so viele Menschen auf einem Haufen gibt es in Popoli nicht. Nicht in einem Monat, nicht im ganzen Jahr und nicht in zehn Jahren“, denkt er. Aber es sind nicht nur die Menschen, die ihn schwindlig werden lassen. Denn es wimmelt nur so von Fahrzeugen; von Pferdefuhrwerken und Kutschen und Ochsenkarren. Und von Tieren; ganzen Schweineherden, einzelnen Kühen, Eseln und Ziegen. Und von Hühnern, Hunden und sonst noch was. Aber richtig aufregend sind die vornehmen Menschen, die Damen allzumal. Das hat er noch nie gesehen. Tonino fängt an zu tanzen und tanzt mit seinen Blicken durch die fremde Welt. Hier ein körpernah geschnittenes Mieder mit viel Haut und Bordüren. Da ein Rock mit fantasievollem Faltenwurf. Dort eine kunstvolle Frisur mit zartem Netz und Bändern oder Perlenschnüren. Tonino taumelt und lernt doch alles kennen, was es in Popoli nicht gibt. Aber hier, im Piscaria der Renaissance: Alles was man als „Gamurra“, „Cioppa“, „Chemise“, „Sella“, „Fazzoletto“ oder „Zoccolo“ bezeichnet.

~Häuser so hoch, wie es sie in Popoli nicht gibt~

Tonino hat nun Eindrücke für mindestens zehn Jahre gesammelt, wenn nicht fürs ganze Leben. Aber da sind noch die Schiffe, die bis nach Indien segeln würden und das Meer. Am Hafen angekommen, findet er aber nebst dem schon bekannten Fischgeruch nur einige kleinere Boote, die vom Fischfang zurückgekehrt sind. „Wo sind denn die Schiffe, die bis nach Indien segeln?“, fragt er einen alten Mann, der den Horizont studiert. „Ach, die sind in Venedig, der Republik, oder auf dem Meer“, sagt der Greis gütig. „Aber sieh mal, da ist ein Schiff, das kommt über den Horizont. Jetzt kannst du nur die Masten sehen, aber schon bald die ganze Reling“. „Warum ist das so?“, fragt Tonino etwas enttäuscht, denn das Schiff ist nicht sehr groß und eben nur zur Hälfte zu erkennen. „Weil die Erde rund und keine Scheibe ist“, sagt Leonardo. Nur, das weiß Tonino nicht. Nicht dass es Da Vinci ist. Also kehrt er heim, nach Popoli in die Abruzzen, und nach fünf Tagen ist er da. „Wo warst du?“, fragt seine Mutter. „Ich war hinter dem Horizont“, sagt Tonino und kaut zufrieden, denn es gibt Haferbrei, seine Lieblingsspeise. Und der Hund ist auch da.

Ende der Reise.

Ins Kulturzentrum Kammgarn in Schaffhausen gehe ich eigentlichen selten und oft bin ich enttäuscht. Diesmal hat sich mein Besuch aber unerwartet gelohnt. So unerwartet, dass ich noch nicht mal meine Kamera dabei hatte. Das Musikensemble „Giulia y los Tellarini“ aus Barcelona war für mich eine Neuentdeckung von quicklebendiger Musik zwischen Salsa, Bossanova, Flamenco, Chanson und selbst ein wenig Jazz. Das hört sich unmöglich und etwas banal-folkolorehaft an, wie der Name der Gruppe. „Giulia“ ist aber der Vorname der Sängerin mit einer italienischen Mutter und einer französischen Großmutter. Und „Tellarini“ ihr Nachnahme. Giulia singt Texte in Spanisch, Englisch, Französisch und Italienisch und sie sind frech und bisweilen ziemlich ironisch. Diese Wirkung hat aber auch mit der Gesangs- und Bühnenkunst der Frontfrau zu tun. Die zierliche Sängerin, die bisweilen in wallenden Gewändern auftritt, bewegte sich meist rasant schnell und bisweilen lasziv schmachtend. Die abstruse Gestik ihrer Arme und Hände war diesmal in ihrem Kleidchen mit gepolsterten Schultern und kurzem Unterteil wohl noch köstlicher als sonst. Sie wirkte auf mich wie ein Pagliaccio der Commedia dell’arte. Ein wahrhaftiger Clown war sie, wie sie auf ihren hochhakigen Schuhen zwischen den Musikern hin- und hertrippelte und sich dann wieder an ihr Mikrofon schmiegte. Aber ihre Stimme ist die eigentliche Sensation. Meist war sie kehlig oder tief, beinahe männlich. Aber auch mädchenhaft und dann wieder jubilierend hoch. Sie spielte mit ihren Texten und in Zwischenbemerkungen auch mit dem Publikum.

~Die Musik von Giulia y los Tellarini: Klar, schmachtend, virtuos~

Nun möchte man glauben, ich hätte mich total in die Sängerin verliebt. Das stimmt. Aber die Musiker der siebenköpfigen internationalen Gruppe mit aktuellem Heimatort Barcelona waren nicht weniger attraktiv: Alejandro Mazzoni (bass, perc), Jens Neumaier (git, e-git, charango), Maik Alemany (git, charango, mandoline), Olga Abalos (sax, fl), Xavier Tort (tr), Camilo Zorrilla (perc). Besonders gut gefallen hat mir Alejandro Mazzoni, der Mann mit dem Bass aus Buenos Aires. Oder Jens Neumaier, der seine Gitarre bisweilen wie Ry Cooder mit dem Buena Vista Social Club spielte. Oder und ganz besonders Olga Abalos, die Saxophonistin. Sie wirkte in ihrer Kleidung erst wie die Schülerin eines katholischen Mädcheninternats, entwickelte sich dann aber als wahre Furie. Dass die sechs Mitmusiker von Giulia durchaus auch alleine bestehen könnten, zeigten sie in einem Instrumentalstück nach der Pause. Es war eine sehr leise und langsame Komposition, die jedem Jazzmusiker Paroli bot. Giulia kam dann trotzdem wieder, erst ausstaffiert wie ein Leutnant der spanischen Marinegarde. Später war sie dann aber ganz wieder die Femme fatale mit Kopfschmuck der Zwanziger Jahre.

Richtig bekannt wurden „Giulia y los Tellarini“ durch eine Filmkomödie von Woody Allen: „Vicky Cristina Barcelona“. Diese spielt zu größten Teilen in Barcelona mit der Dekoration der Bauwerke von Antoni Gaudí. Woody Allen, der sich zur Zeit der Dreharbeiten in einem Hotel in Barcelona aufhielt, wurde ein Demotape der Band zugespielt und er soll sich spontan entschlossen haben, den Titel „Barcelona“ als Filmmusik zu verwenden. Das scheint wohl das Glück der Tüchtigen gewesen zu sein.